AVWS – Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung

Die Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen haben bei den verschiedensten Disziplinen wachsendes Interesse und eine zunehmende Beachtung gefunden. Bei uns in Vorarlberg kamen vermehrt Kinder zur Abklärung, die zwar ein intaktes Hörvermögen besaßen, nicht aber die Fähigkeit, alles richtig zu verstehen. Meist handelt es sich um Kinder mit komplexen Lernstörungen und psychosozialen Auffälligkeiten.

 

Wir konzipierten für unser Zentrum und für das Land Vorarlberg einen Weg von der Diagnose bis zur Förderung.

Das Konzept lebt, d.h., es wird ständig von uns evaluiert und den neuesten Forschungsergebnissen angeglichen. Wir verfolgen ganz bewusst Diskussionen zwischen der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) und der American Speech and Hearing Association (ASHA) mit, die oft kontroverse Standpunkte zu diesem Thema einnehmen.

Kinder, die zur Abklärung kommen, haben Probleme mit dem Zuhören und mit dem Verstehen. Kann nun das Kind Töne, Klänge und Laute über das periphere Hören aufnehmen, sie aber nicht in sinnvolle Informationen umsetzen, dann ist die zentrale Hörverarbeitung nicht intakt.

Der Hörvorgang als Ganzes ist sehr komplex.

Wir können ihn in ein peripheres und zentrales Hören gliedern. Beim peripheren Hören werden Ohrmuschel, Gehörgang, Mittelohr und Innenohr zur Arbeit aufgefordert. Liegen in diesen Bereichen Hörverminderungen vor, wird dem Kind entweder operativ geholfen oder mit Hörgeräten versucht, das Hörvermögen zu verbessern. Beim zentralen Hören gelangen neuronale Impulse in den Hirnstamm und es beginnt der zentrale oder auch retrocochleäre Anteil des Hörens.

Auditive Verarbeitung wird definiert als neuronale Weiterleitung und Filterung von auditiven Signalen bzw. Informationen auf verschiedenen Ebenen (Hörnerv, Hirnstamm, Kortex). Gehen wir davon aus, dass äußere und innere Haarzellen intakt sind und die Störung überwiegend auf Hirnstammniveau lokalisiert wird, kann davon ausgegangen werden, dass eine gestörte Verarbeitung überwiegt.

Auditive Wahrnehmung wird definiert als ein Teil der Kognition, der sich auf Prozesse bezieht, durch die Wahrnehmung verarbeitet, gespeichert und verwendet wird, d. h. Wahrnehmung im Sinne von zunehmender bewusster Analyse auditiver Informationen.

Durch die vorher genannte Verarbeitung, die einer hierarchischen Struktur folgt und als „Bottom –up -Prozess“ (von der Peripherie zum Kortex)  bezeichnet wird, und den zunehmenden „Top – down -Prozessen“ (vom Kortex zur Peripherie) findet Wahrnehmung statt. Der genaue Vorgang ist bis heute aber noch nicht restlos geklärt.

Bestehen Störungen im primären auditorischen Kortex oder in den Assoziationszentren, kann davon ausgegangen werden, dass eine  gestörte Wahrnehmung überwiegt.

Auditive Teilleistungen werden benötigt, damit höhere komplexe Funktionen – wie z.B. Sprache und Denken – aufgebaut und differenziert werden können. Sie stellen auch die Basis für Lesen, Schreiben und Rechnen dar. In der Literatur findet man verschiedene Modelle zur Beschreibung der Teilfunktionen. Wir stützen uns auf die Unterteilung von Norina Lauer.

Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprozesse finden mit zunehmender afferenter Weiterleitung nervaler Impulse statt.

Unter Lautdiskrimination oder Differenzierung versteht man die Fähigkeit, ähnlich klingende Geräusche oder Laute zu unterscheiden.

Einzelne Elemente aus komplexen akustischen Signalen herauszuhören, wird als die Fähigkeit zur Analyse oder Identifikation bezeichnet. Auf die Sprache bezogen bedeutet dies das Heraushören von Einzellauten, Silben oder Wörtern.

Die Synthese steht im engen Zusammenhang mit der Analyse. Es ist die Fähigkeit, aus einzelnen akustischen Elementen eine komplexe Gestalt zu bilden.

Analyse und Synthese fallen unter den Begriff „phonologische Bewusstheit“.

In der Neukonzeption der American Speech and Hearing Association werden diese „höheren kognitiven Funktionen“ wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit und phonologische Bewusstheit nicht mehr dem Störungsbild der AVWS zugerechnet. Im überarbeiteten Konsensuspapier der DGPP wird diese Änderung zwar kritisch reflektiert, jedoch weiterhin ins Störungsbild miteinbezogen.

Eine weitere auditive Teilleistung ist die Lokalisation.  Sie erlaubt uns Geräuschquellen im Raum zu orten. Das Richtungshören benötigen wir, um Schallquellen ihrer Richtung  und Entfernung nach zuzuordnen (kommt das Geräusch von der linken oder rechten Seite).

Die Fähigkeit, zwei Höreindrücke verschmelzen zu können, die gleichzeitig auf das rechte und linke Ohr eintreffen, wird als dichotisches Hören bezeichnet.

Durch Ergänzung können wir unvollständige, lückenhafte und veränderte Informationen korrekt wahrnehmen. Kommt es beispielsweise beim Radiohören zu einer Unterbrechung des Wortes, so können wir dennoch das Nichtverstandene ergänzen.

Eine eingeschränkte Spracherkennung im Störgeräusch und Probleme beim Sprachverstehen in Gruppensituationen sind Folgen einer unzureichenden Selektionsfähigkeit.

Eine optimale Interaktion aller Teilleistungen oder auch das Erlernen einer Strategie zur Kompensation bewirken eine Verbesserung der Sprachentwicklung, des Schriftspracherwerbs, der Aufmerksamkeit, der Schulleistungen, der psycho-sozialen Kompetenz und der Persönlichkeitsentwicklung.

Was versteht man nun unter AVWS?

Nach der aktuellen Definition liegt eine auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung dann vor, wenn bei normalem Tonaudiogramm zentrale Prozesse des Hörens beeinträchtigt sind. Zorowka spricht bei Kindern von einer Häufigkeit von 2-3%. Dabei ist das männliche Geschlecht doppelt so häufig betroffen.

Von einer AVWS kann gesprochen werden, wenn Störungen in mindestens drei auditiven Teilleistungen bestehen.

Ursachen

Eine adäquate Antwort auf die Frage „Woher kommt eine AVWS?“ zu geben, ist nicht einfach, da die Ursachen meist vielschichtig sind.

Zu denmedizinischen Faktoren gehören beispielsweise chronische Mittelohrergüsse und –entzündungen, prä-, peri- und postnatale Ursachen wie Sauerstoffmangel, Frühgeburten und Infektionen.

Zu denumweltbedingten Ursachen gehören mangelndes Lernangebot und/oder psychosoziale Faktoren (Nikotin, Alkohol, Medikamente, Drogen), die zu unzureichenden Stimulationen führen.

Symptome

zeigen sich im Sprachverhalten durch Sprachentwicklungsverzögerung, reduziertes Sprachverständnis, eingeschränkter Wortschatz, …, im Hörverhalten durch verringertes Interesse an Geschichten und Liedern, häufiges Verwechseln ähnlich klingender Laute, … und im Verhalten selbst durch allgemeine Verhaltensunsicherheit, Unkonzentriertheit, … .

Folgen einer AVWS

Neben der Phonemdifferenzierung, Identifikation, Synthese und Analyse kommen Sprachverständnisstörungen zum Ausdruck. Das Kind versteht das Wort, die Grammatik oder W-Fragen nicht.

Wenn das Sprachverständnis deutlich unterhalb der auditiven Leistungen liegt, kann man von einer Sprachverständnisstörung und nicht von einer AVWS ausgehen. Dies gilt auch in umgekehrtem Sinne.

Ebenso benötigen wir für das Lesen und Schreiben eine gute auditive Verarbeitung und Wahrnehmung. Liegt eine AVWS vor, können Schwierigkeiten entstehen bei der Synthese, Analyse und Ergänzung gelesener und geschriebener Wörter und Sätze.

Bei Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom mit oder ohne Hyperaktivität (ADS, ADHS) sind häufig auch Störungen der auditiven Teilleistungen zu beachten.

Es ist auf jeden Fall eine differenzialdiagnostische Abgrenzung zwischen AVWS und ADHS erforderlich. Sie stellen zwei klinisch unterscheidbare Störungsbilder dar.

Hyperakusis bzw. Lärm-/Lautstärkeempfindlichkeit ist ein subjektiv wahrgenommenes Unbehaglichkeitsempfinden. Für manche Menschen sind normale Geräusche wie Hundegebell oder Telefonklingeln eine einzige Qual. Studien zufolge leiden etwa 9 bis 15 Prozent der Bevölkerung an einer Hyperakusis.

Diagnose

Das Erscheinungsbild der zur Diagnostik vorgestellten Kinder ist differenziert, die Nomenklatur für die Störungsbilder ist weltweit unterschiedlich.

Es gibt noch kein einheitliches Diagnoseverfahren. Das Ziel sollte sein, dass es in Zukunft ein Standardverfahren gibt, das einer Diagnostik und Therapie gerecht wird.

Die Miterfassung psychischer Faktoren und mentaler Fähigkeiten macht die Untersuchung der Kinder zu einer komplexen und aufwendigen Aufgabe.

Diagnoseschritte

Bei der Diagnostik muss ein vorangehendes möglichst strukturiertes Anamnesegespräch stattfinden.

Zusätzlich ist es erforderlich, vor Beginn der AVWS–Diagnostik, das periphere Hören abklären zu lassen. Gibt es keine Probleme im peripheren Hören, wird ein Screening durchgeführt.

Das Screening selbst stellt auf keinen Fall fest, ob eine AVWS diagnostiziert oder ausgeschlossen werden kann. Sie gibt lediglich einen Hinweis darauf.

Nach dem Screening werden noch andere Gutachten eingeholt.

Bei einer normalen, durchschnittlichen Intelligenz wird eine detaillierte Diagnostik vorgenommen.

Bei der detaillierten Diagnostik müssen sowohl subjektive als auch objektive Testverfahren zum Einsatz kommen, die die verschiedenen Aspekte der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung überprüfen. Um „Top-down-Einflüsse“ zu vermeiden, sind die Auswahl der subjektiven Tests alters-, sprach- und entwicklungsabhängig zu treffen.

Schlusswort

In Zukunft werden wir lernen müssen, mit den massiven Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit und der Wahrnehmung bei Kindern adäquat umzugehen, damit betroffene Kinder eine erfolgreiche Teilnahme in Schule und Gesellschaft  ermöglicht werden kann.

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